374 Frauen brachen am 06. Juni 1971 das Tabu zum Schwangerschaftsabbruch und sprachen über ihre Abtreibung – auf der Titelseite des Sterns.
Die Kampagne initiierte u.a. Alice Schwarzer – als Vorbild galt ihr eine ähnliche Aktion (Le manifeste des 343) am 5.April 1971 in einer französischen Zeitschrift, bei der 343 Französinnen (z.B. auch Simone de Beauvoir öffentlich erklärt hatten: Je me suis fait avorter („Ich habe abgetrieben.“).
Daraufhin wuchsen die Proteste und Forderungen nach Entkriminalisierung. Justizminister Jahn kündigte eine Reform des §218 an. Mit Stimmen von SPD und FDP wurde am 26. April 1974 die Fristenlösung verabschiedet (was übrigens auch in der DDR schon seit 1972 so war). Doch der Erfolg währte nur kurz: Die CDU/CSU-Fraktion legte Verfassungsbeschwerde gegen die Fristenlösung ein und das Bundesverfassungsgericht erklärte 1975 die Fristenlösung tatsächlich für verfassungswidrig. Im Februar 1976 verabschiedete der Bundestag also die Indikationslösung. Der Schwangerschaftsabbruch war ab jetzt nur dann nicht strafbar, wenn eine ‚medizinische‘, ‚kriminologische‘, ‚embryopathische‘ oder eine ‚soziale‘ Indikation vorlag.
Man könnte hoffen, dass sich seitdem viel getan hat, aber in Wirklichkeit ist der Schwangerschaftsabbruch bis heute noch extrem tabuisiert und kriminalisiert. Das Abtreibungsgesetz wurde nach der Wiedervereinigung wieder verschärft – d.h. bis heute ist der Schwangerschaftsabbruch in den meisten Fällen rechtswidrig, es wird jedoch von einer Strafe abgesehen.
„Wir haben abgetrieben“ steht jetzt also 50 Jahre später erneut auf der Titelseite des Sterns. Wieder haben einige Frauen das Tabu gebrochen und öffentlich über ihren Schwangerschaftsabbruch und ihre Erfahrungen gesprochen. Wir danken jeder Einzelnen für ihren Mut und ihre Offenheit, diese Geschichten zu erzählen – denn wir wissen, dass Gespräche über Abtreibungen immer noch viel zu selten öffentlich geschehen.
Und auch wir haben mit dem Stern für diese Reportage gesprochen – über die Notwendigkeit einer Reform, über die Versorgungslage, und die fehlende Ausbildung. Es muss sich noch viel verändern. Und dafür setzen wir uns ein.
Möglicherweise gibt es ja irgendwo in diesem Land eine Frau, die sagt: „Abtreibung? Kein Problem. So spare ich mir die Verhütung.“ Wir haben keine getroffen. Und auch keinen Mann, der das von seiner Partnerin erwartet. Wir haben auch keine Frau getroffen, die morgens feststellte, dass sie schwanger war, mittags abtreiben ließ und sich abends fragte: „Huch, was habe ich nur getan?!“
„Noch immer sind Abtreibungen rechtswidrig. Was das für diese und viele andere Frauen bedeutet“. Stern, 02.06.2021
Doch genau solche Szenarien schwingen in der Gesetzgebung mit: Wenn man Abbrüche erlaubt, so die Annahme, nehmen Frauen diese Möglichkeit leichtfertig und unüberlegt wahr. Wenn man es ihnen verbietet, machen sie es zwar trotzdem, werden aber wenigstens an die Unrechtmäßigkeit ihres Tuns erinnert.
Acht Männer des Bundesverfassungsgerichts haben diese Rechtsprechung erarbeitet. Einer der Richter soll im Zuge der Verhandlungen gar vor „Luxusabtreibungen“ gewarnt haben: Frauen würden sich aus reiner Bequemlichkeit gegen eine Schwangerschaft entscheiden, damit sie ihre Reit- oder Tennisstunden nicht absagen müssen.
Man kann sich wohl darauf einigen, dass das ein eigentümliches Frauenbild ist.