Schwangerschaftsabbrüche gehören zu unseren Leben und unserer Gesellschaft dazu. Circa jede fünfte Frau führt im Laufe ihres Lebens einen Schwangerschaftsabbruch durch. Und trotzdem erleben wir bis heute eine starke Stigmatisierung und Tabuisierung, ein Schweigen und Ignorieren, als ob es kaum gesellschaftliche Relevanz hätte.
Wir schauen beunruhigt in unser Nachbarland Polen oder zum US-Bundesstaat Texas und stehen solidarisch hinter allen Aktivist*innen, ungewollt Schwangeren und dem Gesundheitspersonal, welches sich gegen die Restriktionen vor Ort wehrt.
Wir schauen ebenso beunruhigt nach Deutschland, wo wir eines der strengsten Abtreibungsgesetze Europas haben, welches dieses Jahr sogar 150-jähriges „Jubiläum feiert“: Schwangerschaftsabbruch steht in Deutschland im Strafgesetzbuch, bleibt in bestimmten Ausnahmefällen straffrei, in den allermeisten Fällen jedoch rechtswidrig. Das hat Konsequenzen: die Strafandrohungen durch die §§218 bis 219 StGB verstärken die Stigmatisierung und Tabuisierung, sie erschweren die Thematisierung in der medizinischen Ausbildung, sie schüchtern Ärzt*innen ein und tragen damit erheblich zum Versorgungsnotstand im Bereich des Schwangerschaftsabbruchs bei.Die §§218 und 219 StGB erzeugen bei ungewollt Schwangeren Gefühle von Angst, Scham, schlechtem Gewissen und gefährden nachweislich deren psychische Gesundheit. Auchweite Fahrtwege und der damit verbundene organisatorische und finanzielle Mehraufwand ist psychisch und physisch belastend. Medizinische Abläufe werden durch diese Zugangshürden unnötig verzögert. Die verstärkte Vernetzung und Radikalisierung von christlichen Fundamentalist*innen, Abtreibungsgegner*innen und der Neuen Rechten in Deutschland sowie weltweit erschwert die Situation zudem und schüchtert Gesundheitspersonal, Frauen und ungewollt Schwangere und Aktivist*innen weiter ein. Erst vor kurzem wurde unser Vorstandsmitglied Dr. Alicia Baier wegen der Teilnahme eines Interviews angezeigt.
Die letzten beiden Jahre der Corona-Pandemie haben uns erneut deutlich aufgezeigt, wo die Zugangshürden liegen. Seitens der Politik scheint es wenig Interesse oder Wille an Veränderung zu geben. Statt Zugangsbarrieren abzubauen, beschließt das Bundesgesundheitsministerium den Importzugang von Cytotec® (Misoprostol) – das Standard-Medikament für den medikamentösen Schwangerschaftsabbruch (und für viele weitere Indikationen in der Gynäkologie & Geburtshilfe) – zu erschweren.
Wir wissen nichts über die Dunkelziffer von selbst ausgeführten oder versuchten unsicheren Abtreibungen, gehen aber davon aus, dass sie zugenommen haben. Circa 20 Pakete mit Abtreibungspillen verschickt die gemeinnützige Organisation Women on Web pro Monat nach Deutschland, angefragt von ungewollt Schwangeren, die aus finanziellen oder anderen Gründen auf keinem anderen Weg zu einen Schwangerschaftsabbruch kommen. Jede dritte ungewollt Schwangere, die einen Abbruch nach der 14. Schwangerschaftswoche durchführen möchte, fährt dafür in die Niederlande. Das ist beschämend für ein als liberal geltendes Land wie Deutschland.
Dabei ist der Zusammenhang zwischen restriktiven Abtreibungsgesetzen und einer erhöhten Gesundheitsgefährdung ungewollt Schwangerer hinreichend bekannt. Schwangerschaftsabbrüche sind am sichersten und schonendsten, wenn sie unter legalen und sicheren Bedingungen und so früh wie möglich durchgeführt werden. Restriktionen führen nicht zur Verhinderung von Schwangerschaftsabbrüchen.
Wir schließen uns daher den Forderungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO), der Frauenrechtskonvention der UN (CEDAW) sowie den Forderungen des Matic-Bericht des EU-Parlaments an: Der Schwangerschaftsabbruch darf kein Strafbestand sein, sondern er muss eine öffentliche Gesundheitsleistung werden! Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch sind außerhalb des Strafgesetzes möglich, beispielsweise in Sozialgesetzbüchern oder innerhalb der für den Gesundheitsbereich geltenden Rechtsordnungen. Informationsverbote sowie verpflichtende Beratungen und Wartezeiten gilt es zu überwinden, da sie Zugangshürden darstellen und medizinische Abläufe unnötig verzögern können. Beratungen können ihre helfende Wirkung vor allem dann entfalten, wenn sie auf freiwilliger Basis ablaufen.
Für die Gesundheit unserer Patient*innen muss eine flächendeckende Versorgung von Ärzt*innen, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen, gewährleistet werden. Wir benötigen eine verlässliche Erhebung der Versorgungslücken und schnelle politische Maßnahmen, welche dem Versorgungsnotstand gezielt entgegensteuern. Wir hoffen, dass das Thema Abtreibung durch eine vermehrte gesellschaftliche Auseinandersetzung und nicht zuletzt auch durch unsere Arbeit enttabuisiert wird, damit wir frei von Vorurteilen über Sexualität, Fortpflanzung und Familienplanung sprechen können.
Wir appellieren deshalb an Politik, Medizin, Medien, Aktivist*innen, Betroffene und Einzelpersonen, für reproduktive Rechte und Gesundheit einzustehen. 150 Jahre §218 StGB sind genug! Wir rufen mit zahlreichen weiteren Organisationen aus Deutschland zur Teilnahme am International Safe Abortion Day am 28.09.2021 auf. Es sind mittlerweile in über 60 Städten Aktionen diesbezüglich dazu geplant.