Warum es kein Widerspruch ist, eine Aufhebung der Zugangshürden von Cytotec® zu fordern und sich gleichzeitig für sichere, gewaltfreie Geburten einzusetzen:
Weder in der Geburtshilfe noch in einem anderen medizinischen Bereich gibt es Medikamente, die nicht auch Risiken bergen. Weder Cytotec® noch ein anderes Mittel, das zur Geburtseinleitung eingesetzt werden kann, ist eine Ausnahme. Es ist absurd, ein Medikament, das in einer speziellen Situation Komplikationen verursacht hat, auch für ganz andere Situationen oder Patient*innengruppen zu sperren.
Die Annahme, dass die Verbannung von Cytotec® zur Geburtseinleitung die Geburtshilfe sicherer machen könnte, ist schlichtweg falsch. Es macht nur viele andere Situationen in der Gynäkologie und Geburtshilfe unsicherer, in denen das Präparat dringend benötigt wird und nimmt Schwangeren eine Entscheidungsoption zur medikamentösen Einleitung. Viele andere Medikamente, die zur Geburtseinleitung eingesetzt werden, werden vaginal angewendet. Dies wird von vielen Schwangeren häufig als massivere Intervention erlebt als ein orales Präparat.
Eine Geburtseinleitung setzt immer eine Situation voraus, in der ein Abwarten eine mögliche Gefährdung bedeuten würde. Wie bei jedem Eingreifen in den physiologischen Prozess einer Geburt muss zwischen Risiken und Nutzen abgewogen und die Schwangere darüber informiert werden. Geburtshelfer*innen streben wie alle anderen Beteiligten grundsätzlich einen sicheren und gleichzeitig harmonischen Verlauf einer Geburt an.
Wenn die Entscheidung für eine Einleitung getroffen wird, muss das Medikament dafür verwendet werden, welches nach Studienlage das sicherste in der jeweiligen Situation ist. In vielen Fällen ist dies der Wirkstoff Misoprostol, bekannt als Cytotec®.
So lange die Dosierung nach Studienlage und bei richtiger Indikation erfolgt, bedeutet die Anwendung im “Off-Label-Use” nicht, dass das Medikament weniger sicher ist. Sicherer wird die Anwendung eines Medikaments durch verbindliche Dosierungsempfehlungen, Anwendungs-Protokolle und wenn die Behandlung unter Beobachtung des Wohlergehens der Schwangeren und des Kindes durch Fachpersonal erfolgt. Hier sind die Fachgesellschaften in der Pflicht, Leitlinien zu erstellen. Auch jedes zugelassene Präparat kann einen “Wehensturm” auslösen und gerade bei Mehrgebärenden kommt dies auch ohne jegliche Intervention vor.
Wir gehen in Ländern wie Deutschland selbstverständlich davon aus, dass eine Schwangerschaft zur Geburt eines gesunden Kindes und einer langfristig unverletzten Gebärenden führt. Zum Glück trifft dies in den allermeisten Fällen zu. Dabei ist auch eine physiologische Geburt eine extreme Situation, körperlich und psychisch. Leider gibt es Geburten, bei denen Gebärende oder Kind zu Schaden kommen, manchmal schicksalshaft, aber auch manchmal einer Situation geschuldet, in der Fehler gemacht wurden. Dies ist immer eine Katastrophe. Zuallererst natürlich für die betroffenen Familien, aber auch für das medizinische Personal. Immer fragen sich die Verantwortlichen selbst (und müssen sich fragen lassen): Gab es Versäumnisse bei der Sorgfalt oder sind Entscheidungen getroffen worden, die im Nachhinein nicht hätten getroffen werden dürfen? War zu wenig oder zu wenig erfahrenes Personal im Kreißsaal? Gab es Fehler in der Anwendung oder Dosierung von Medikamenten?
Sehr häufig findet sich nach einer Geburt mit traumatischem Ausgang vor allem eins wieder: Die betroffenen Familien berichten von einem Kontrollverlust in einer eskalierenden Situation und davon, dass sie nicht ausreichend über das Vorgehen aufgeklärt wurden, nicht mitentscheiden konnten und ihnen auch im Nachhinein auf viele Fragen keine Antworten gegeben wurden.
Die Diskussion um das Verbot von Cytotec® zeigt, dass wir über Gewalt in der Geburtshilfe, über mangelnde Kommunikation und Aufklärung im Kreißsaal, über Zeitnot, zu wenig Personal und gesundheitsgefährdende ökonomische Zwänge in den Krankenhäusern reden müssen. Auch sexistisches und paternalistisches Verhalten des Gesundheitspersonals im Kreißsaal muss als solches identifiziert und bekämpft werden.
Hier müssen wir uns gemeinsam für eine Veränderung einsetzen. Wir fordern eine Verbesserung der Bedingungen im Kreißsaal für Personal und Gebärende, eine Verbesserung der Kommunikation sowie Lehre und Leitlinien, die auf Studienergebnissen beruhen.
Und wir fordern, dass Cytotec® für andere wichtige Bereiche der Frauengesundheit weiter zur Verfügung steht.