Leserinnenbrief zum Artikel “Ausgewählte Versorgungsdaten zum Schwangerschaftsabbruch in Deutschland: eine Auswertung für die Jahre 2011 bis 2020” (Frauenarzt 10/2022), David M; Werneck, K-D

In der Ausgabe des Frauenarzt vom Oktober 2022 ist ein Artikel zur Versorgungssituation beim Schwangerschaftsabbruch erschienen. Daraufhin haben die Vorstands- und Beiratsmitglieder von Doctors for Choice als Reaktion einen Leserinnenbrief geschrieben, der nun (in einer gekürzten Fassung) in der Ausgabe des Frauenarzt vom Januar 2023 erschienen ist. Die Langfassung des Leserinnenbriefs soll nun hier abgedruckt werden und kann hier als PDF-Version heruntergeladen werden.


Die Autoren kommen in ihrem Artikel zu dem Ergebnis, dass es „keine Hinweise auf einen Versorgungsengpass oder eine angespannte Versorgungslage“ beim Schwangerschaftsabbruch in Deutschland gebe. Dieses Fazit soll durch folgende Ausführungen kritisch hinterfragt werden. Der Artikel steht in einem irritierenden Gegensatz zu den ersten Ergebnissen der noch laufenden ELSA-Studie, welche auf dem DGGG-Kongress in München vorgestellt wurden. [1] Auch widerspricht der Artikel zahlreichen individuellen Erfahrungsberichten von Konfliktberatungsstellen und Ärzt*innen, die Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland durchführen.

Ein näherer Blick auf die Studie zeigt eklatante formale Fehler. Qualitative Faktoren bleiben unberücksichtigt.

  1. Es wurden keine Forschungsfragen formuliert. Die als solche bezeichneten sind allenfalls als Gliederung des Artikels zu verstehen.
  2. Als Datengrundlage dient die Auswertung des Statistischen Bundesamtes zur Anzahl der Schwangerschaftsabbrüche sowie die in der Liste der Bundesärztekammer eingetragenen Einrichtungen [2,3]. Diese Liste enthält 372 Eintragungen und ist bekanntermaßen unvollständig. Weitere Recherchen wurden nicht vorgenommen. Das Statistische Bundesamt hat für das 2. Quartal 2022 1097 Meldestellen gemeldet, somit bildet die BÄK- Liste nur ca. 30% der Ärzt*innen ab, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen. Auf dieser defizitären Grundlage sind Schlussfolgerungen zur Versorgungssituation nicht möglich.
  3. Es fehlt ein erkennbares Verständnis der Konzeptualisierung von flächendeckender oder bedarfsgerechter Versorgung und damit auch der Kriterien für die Prüfung von Defiziten. So wird als ausreichende Versorgung eine Entfernung von 2 Stunden Fahrzeit mit dem PKW zur Erreichung einer Praxis oder Klinik zugrunde gelegt. Dies erscheint willkürlich. Nach dem geltenden Sicherstellungsauftrag der Kassenärztlichen Vereinigungen und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung besteht als Definition von zumutbarer Entfernung zu einer fachärztlichen Versorgung eine Fahrzeit von maximal 60 Minuten oder 60 km. Zur Erreichung einer allgemeinmedizinischen Versorgung werden sogar nur 30 min Fahrzeit oder 30 km definiert [4].
  4. Die Realität von ungewollt Schwangeren wird in der Bewertung der Versorgungssituation nicht berücksichtigt. Es werden folgende sehr naheliegende Aspekte nicht berücksichtigt: (1) Nach einem Schwangerschaftsabbruch kann die Betroffene nicht Auto fahren. Sie benötigt daher neben einem Auto auch eine*n Fahrer*in. (2) Nicht jede*r Patient*in hat ein Auto zur Verfügung. Die öffentlichen Verkehrsmittel sind nicht in jeder Region gleichwertig verfügbar. (3) Etwa 60% der Personen, die einen Schwangerschaftsabbruch benötigen, haben bereits mindestens ein Kind [2]. Die Kinderbetreuung stellt häufig eine organisatorische Hürde dar. (4) Durch die gesellschaftliche Stigmatisierung des Schwangerschaftsabbruches erfahren nicht alle ungewollt Schwangere Unterstützung aus ihrem sozialen Umfeld. Das kann die Suche nach einer Begleitperson oder Kinderbetreuung erschweren. (5) Möglicherweise sind mehrere Fahrten erforderlich (Voruntersuchung, OP-Termin, Nachuntersuchung). Da ein OP-Termin häufig sehr früh am Tag stattfindet, kann eine Fahrtzeit von 2 Stunden schwierig zu realisieren sein. (6) Gerade Personen in prekären Lebenssituationen, mit niedrigem Einkommen oder Geflüchtete sind von oben genannte Zugangshürden besonders stark betroffen. Diese Mehrfachdiskriminierung findet keine Erwähnung.
  5. Beeinflussende Faktoren zur qualitativen Bewertung der Versorgungssituation bleiben unberücksichtigt, zum Beispiel: (1) Es findet keine Aufschlüsselung über die Anzahl der durchgeführten Schwangerschaftsabbrüche der Einrichtungen statt. Manche Praxen bieten Schwangerschaftsabbrüche ausschließlich für eigene Patient*innen an und nehmen keine Neupatient*innen auf. Sie stehen damit vielen Betroffenen nicht zur Verfügung (2) Es findet keine Aufschlüsselung der Versorgungssituation nach Schwangerschaftswoche und Methode statt. Nicht alle ärztlichen Praxen bieten beide Methoden des Schwangerschaftsabbruchs in ihrer Praxis an. Außerdem bieten manche Praxen die Leistung nur bis zu einer bestimmten Schwangerschaftswoche an. (3) Nicht jede Anlaufstelle, die grundsätzlich Abbrüche durchführt, ist für ungewollt Schwangere (online) aufzufinden. Die erlebte Versorgungslage der individuellen Patientin kann daher maßgeblich von der faktischen Versorgungslage abweichen. (4) In manchen Regionen werden Schwangerschaftsabbrüche von Ärzt*innen durchgeführt, die bereits im Rentenalter sind, aber keine Praxisnachfolge finden. Diese abzusehende Verschlechterung der Situation findet keine Erwähnung.
  6. An mehreren Stellen ist die Herleitung der Daten aufgrund fehlender Quellenangaben nicht nachvollziehbar. Beispielsweise werden Zahlen über Schwangerschaftsabbrüche im Ausland aufgeführt. In der dazu aufgeführten Quelle kann kein Bezug zu anderen Ländern gefunden werden. Zudem ist häufig nicht ersichtlich, welche Quellen für die Anzahl an sogenannten Abbruchspraxen herangezogen werden: die Anzahl der Meldestellen oder die auf der Liste der Bundesärztekammer aufgeführten Praxen. Da sich diese Zahl in großem Maße voneinander unterscheiden (372 gelistete Praxen bzw. 1097 Meldestellen), wäre diese Information zur nachvollziehbaren Interpretation relevant.
  7. Andere Quellen zur Versorgungssituation wurden hingegen nicht berücksichtigt. Die Autoren schreiben, dass es keine veröffentlichten Daten dazu gäbe, wie viele Frauen aus Deutschland in die Niederlande reisen würden. Dabei erfasst das niederländische Bundesamt für Statistik genaue Daten: 2020 reisten 1125 Personen aus Deutschland für einen Abbruch in die Niederlande (3,6% aller Abbrüche in den Niederlanden) [5].
  8. Dort, wo regionale Versorgungsunterschiede erkannt wurden, haben die Autoren versäumt, diese in der Interpretation der Daten weiter zu berücksichtigen. Dies wäre vor allem deshalb interessant gewesen, weil diese Unterschiede sich mit den vorläufigen Ergebnissen der ELSA-Studie decken.

Fazit:

Um eine Aussage über die Versorgungslage von ungewollt Schwangeren zu treffen, ist eine alleinige Betrachtung der Entfernungen von Einrichtungen, die von der Bundesärztekammer als “Schwangerschaftsabbruch-durchführend” gelistet werden, ungeeignet. Es kann damit in keiner Weise die Versorgungsrealität abgebildet werden, die durch sehr unterschiedliche Faktoren beeinflusst wird. Entscheidende Faktoren wie angebotene Methoden und Fristen in Bezug auf die Schwangerschaftswoche, Anzahl der betreuten Patient*innen, Möglichkeiten für kurzfristige Termine, individuelle Lebensumstände der ungewollt Schwangeren und vieles mehr werden in dem vorliegenden Artikel nicht berücksichtigt.

Eine Bezugnahme auf diese lückenhafte Untersuchung im fachlich-wissenschaftlichen Diskurs zur Versorgungssituation von ungewollt Schwangeren in Deutschland sollte die genannten Mängel berücksichtigen
Insbesondere sollte zur Diskussion dieses Themas die wissenschaftlich fundierte Analyse der ELSA-Studie abgewartet werden.



Quellen:

  1. Hahn, D: Versorgungssituation ungewollt Schwangerer – „Erste Ergebnisse der ELSA Studie, DGGG-Kongress, München, 12.10.2022, https://elsa-studie.de/
  2. Statistisches Bundesamt: Meldestellen zur Schwangerschaftsabbruchstatistik in Deutschland im Jahr 2022. Aufgerufen am 31.10.2022 auf: https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft- Umwelt/Gesundheit/Schwangerschaftsabbrueche/Tabellen/meldestellen- 2022.html;jsessionid=6501FD339E673352316D144EF0926462.live741.
  3. Liste von Ärzten, Krankenhäusern und medizinischen Einrichtungen nach § 13 Abs. 3 Schwangerschaftskonfliktgesetz. Aufgerufen am 31.10.2022 auf: www.bundesaerztekammer.de/aerzte/versorgung/schwangerschaftsabbruch/.
  4. Terminservicestelle der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. Aufgerufen am 31.10.2022 auf: www.kvb.de/service/patienten/terminservicestelle.
  5. Niederländische Jahresbericht 2020 zum Schwangerschaftsabbruchgesetz (Anlage 2): https://open.overheid.nl/repository/ronl-d18f3b07-782e-4b08-99c6- 675b0d60ca33/1/pdf/jaarrapportage-2020-wet-afbreking-zwangerschap-wafz.pdf
Leserinnenbrief zum Artikel “Ausgewählte Versorgungsdaten zum Schwangerschaftsabbruch in Deutschland: eine Auswertung für die Jahre 2011 bis 2020” (Frauenarzt 10/2022), David M; Werneck, K-D
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