Kommentar der Doctors for Choice zu „Lage der Nation“-Podcastfolge 206

Am 26.09.2020 in Folge 206 des Podcasts „Lage der Nation“ sprechen Ulf Buermeyer und Philip Banse darüber, ob die Debatte um eine Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs in Deutschland sinnvoll sei. Sie kommen unter anderem zu dem Schluss, dass die derzeitige Rechtslage ein guter Kompromiss sei, dagegen sei eine erneute Auseinandersetzung mit alternativen Regelungen strategisch nicht sinnvoll. In unserem Kommentar möchten wir auf die massiven Probleme beim Zugang zum Schwangerschaftsabbruch in Deutschland hinweisen und wie diese durch die Kriminalisierung von Abbrüchen bedingt sind. Wir gehen auch darauf ein, dass eine konstruktive Auseinandersetzung mit alternativen Regulierungsmöglichkeiten außerhalb des Strafgesetzbuches in Deutschland (im Gegensatz zu anderen Ländern) noch aussteht und weshalb sich die Frage, ob ein solcher Diskurs „strategisch klug“ sei, für uns nicht stellt.

Lieber Ulf Buermeyer, lieber Philip Banse,

als Mitglieder des Netzwerks Doctors for Choice möchten wir Stellung nehmen zu Ihrem Beitrag der vergangenen Woche, in dem sie auf die Situation ungewollt schwangerer Menschen und auf die rechtliche Regulierung des Schwangerschaftsabbruchs in Deutschland eingehen. Doctors for Choice Germany e.V. ist eine Organisation von Ärzt*innen, Medizinstudierenden und einigen Jurist*innen, die mit dem Ziel gegründet wurde, die qualitative und quantitative Versorgung von Personen, die einen Schwangerschaftsabbruch wünschen, zu verbessern. Viele Mitglieder von Doctors for Choice weisen eine langjährige praktische Erfahrung in der Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen auf.

Die mannigfaltigen Hürden, mit denen Personen in Deutschland konfrontiert sind, wenn sie eine Schwangerschaft beenden möchten, sind bekannt. Zwei davon werden auch im Beitrag genannt. Dabei erschließt sich uns nicht, wie gerade Ulf Buermeyer als Jurist und ehemaliger Strafrichter keinen Zusammenhang zwischen den gravierenden Problemen in Bezug auf die Versorgung mit sicheren und effektiven Methoden des Schwangerschaftsabbruchs und dessen Kriminalisierung herstellt. Er fordert, die Situation für Frauen in diesem Bereich zu verbessern, aber innerhalb des geltenden rechtlichen Rahmens, mit Ausnahme von § 219a StGB. Dabei lässt er sowohl die Empfehlungen der auf Frauenrechte spezialisierten, internationalen Menschenrechtskommission, der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als auch die erfahrungsbasierte Einschätzung von Mediziner*innen, Jurist*innen und Aktivist*innen außer Acht, die seit Jahren in diesem Themenbereich arbeiten. Die Forderung der Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs und der Abschaffung der Pflichtberatung stellt daher alles andere als die Meinung „einiger weniger Aktivist*innen“ dar, wie Ulf Buermeyer behauptet. Die Regelung der §§ 218 ff. StGB trägt maßgeblich zu der prekären Versorgungslage im Hinblick auf Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland und der Stigmatisierung von Ärzt*innen bei. Denn Recht ist ein gesellschaftliches Gestaltungsmittel: Es prägt unsere Wertvorstellungen, den sozialen Diskurs und unsere reale Lebensführung im Öffentlichen wie im Privaten. Wer gesellschaftliche Probleme angehen möchte, muss auch an den Stellschrauben des Rechts drehen. Auf dieser Grundlage beruht schließlich auch die Arbeit der GFF, deren Vorstandsmitglied Ulf Buermeyer ist, und die sich auf das juristische Instrument der strategischen Prozessführung spezialisiert hat.

An dieser Stelle ein kurzer Überblick über die bekannten und im Beitrag teilweise benannten Probleme:

Es besteht ein massiver Versorgungsengpass im Bereich der medizinischen Dienstleistung des Schwangerschaftsabbruchs. Dies betrifft insbesondere den ländlichen Raum, aber auch Ballungsgebiete haben in den letzten zwei Jahrzehnten einen gravierenden Rückgang Abbrüche praktizierender Ärzt*innen zu verzeichnen. Dies führt dazu, dass ungewollt Schwangere zum Teil mehrere hundert Kilometer zurücklegen müssen, um eine*n Ärzt*in aufsuchen zu können, der*die diese medizinische Dienstleistung anbietet.

Obwohl es sich um einen der häufigsten gynäkologischen Eingriffe handelt, wird der Schwangerschaftsabbruch an vielen medizinischen Fakultäten kaum thematisiert, noch gehört er zum Pflichtbestandteil der gynäkologischen Weiterbildung. Es gibt keine Leitlinie zum Schwangerschaftsabbruch in Deutschland, die Patient*innen eine einheitliche Behandlung nach modernen Standards gewährleistet. Eine der Folgen ist, dass 14,3% der Abbrüche in Deutschland immer noch mit der Kürettage (Ausschabung), einer von der WHO als veraltet und weniger sicher klassifizierten Methode, durchgeführt werden.

Die Versorgungs- und Ausbildungslücke ist weitgehend durch die Kriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs bedingt. Nach dem ultima-ratio-Prinzip stellt das Strafrecht als schärfstes Steuerungsinstrument des Staates nach Ausschöpfung aller anderen Möglichkeiten das letzte Mittel zur Verhaltenssteuerung dar. Die deutsche Gesetzgebung zum Schwangerschaftsabbruch gehört zu den restriktivsten in Europa. Dies liegt auch an der im Beitrag kritisierten Strafbarkeit der bloßen, sachlichen Information über den Eingriff. Der § 219a StGB kann in seiner abschreckenden Wirkung und frauenrechtlichen Dimension jedoch nicht losgelöst von der sonstigen deutschen Abtreibungsgesetzgebung betrachtet werden. Die §§ 218 ff. StGB befinden sich im 16. Abschnitt der Straftaten gegen das Leben und stehen somit in unmittelbarer systematischer Nähe zu den Kapitalstraftaten Mord und Totschlag, die sich wegen der Vernichtung eines Rechtsgutes von höchstem Rang durch ihren besonderen Unrechtscharakter auszeichnen. Diese Wertung bleibt nicht ohne Folgen. Die Strafandrohungen verstärken die Stigmatisierung und Tabuisierung des Schwangerschaftsabbruches – egal zu welchem Zeitpunkt der Schwangerschaft – und verhindern einen offenen und medizinisch fundierten Diskurs über Sexualität und Fortpflanzung. Sie haben einen massiven Abschreckungseffekt. Dies wird durch die dogmatisch fragwürdige Konstruktion des Straftatbestandes, der ein Verhalten als Straftat gegen das Leben für rechtswidrig erklärt und es gleichwohl teilweise straffrei stellt, verstärkt. Diese selbst für Jurist*innen schwer verständliche und im juristischen Studium nicht thematisierte Norm sorgt bei Nicht-Jurist*innen und Ärzt*innen für Verunsicherung. Die Bereitschaft von Ärzt*innen, Abbrüche durchzuführen, bei denen sie in Unkenntnis der genauen Regelung strafrechtliche Konsequenzen befürchten und die im Rahmen ihrer Ausbildung nicht erlernt wurden, ist denklogisch gering.

Die Kriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs ist auch der Grund, weshalb die Kosten für den Abbruch grundsätzlich nicht von den Krankenkassen übernommen werden. Bei geringem oder gar keinem Einkommen können die Kosten auf Antrag durch das jeweilige Bundesland, in dem die Person ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hat, übernommen werden. Diese Regelung führt zu bürokratischem Mehraufwand für die schwangere Person und damit zum Verlust von wertvoller Zeit für die Einhaltung von Fristen. Diese Problematik zeigte sich vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie verstärkt, da Schwangere hier durch Home-Office und Kontaktvermeidung besondere Schwierigkeiten hatten, eine Kostenübernahme zu erhalten.

Der Zusammenhang zwischen restriktiven Abtreibungsgesetzen und einer erhöhten Gesundheitsgefährdung ungewollt Schwangerer ist durch zahlreiche Studien belegt. Die Rate unsicherer Abbrüche ist in denjenigen Ländern besonders gering, deren Gesetzgebung zum Schwangerschaftsabbruch liberal ist. Die Kriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs führt hingegen keineswegs zu einem Rückgang von Abbrüchen. Abtreibungen zu kriminalisieren, verhindert sie nicht, sie erhöht jedoch das Gesundheitsrisiko für die schwangere Person. Dass die derzeitige rechtliche Regelung eine „weise Abwägung“ darstellt,zweifeln wir in Hinblick auf diese gesellschaftliche Realität an.

Dabei steht unsere Forderung in Einklang mit den Empfehlungen internationaler Organisationen: Die Weltgesundheitsorganisation fordert ihre Mitgliedstaaten auf, den Schwangerschaftsabbruch zu entkriminalisieren und von Pflichtberatungen und Pflichtwartezeiten abzusehen. Auch der UN-Ausschuss zur Frauenrechtskonvention CEDAW empfiehlt den Vertragsstaaten in seiner Allgemeinen Empfehlung Nr. 33 zum Zugang von Frauen zur Justiz, solche Verhaltensweisen nicht zu kriminalisieren, die nur von Frauen ausgeführt werden können und benennt hierbei ausdrücklich und ausschließlich den Schwangerschaftsabbruch. Dabei sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass Menschen, die abtreiben möchten, auf ärztliche Unterstützung und somit auf Dritte angewiesen sind, deren Kriminalisierung ebenfalls unterbleiben muss, um sichere Abbrüche zu gewährleisten. Ein Eingriff Dritter, der gegen den Willen der Frau zu einem Abbruch führt, könnte dabei ohne menschenrechtliche Bedenken weiterhin unter Strafe gestellt werden.

Aus den dargelegten Gründen ist die derzeitige Regulierung des Schwangerschaftsabbruchs im Rahmen des Strafgesetzbuches alles andere als eine „weise Abwägung“, „die uns 30 Jahre Frieden gebracht hat“. Sie hat praktische negative Konsequenzen für die Gesundheit und das Leben sehr vieler Menschen, denn im Durschnitt bricht jede fünfte gebärfähige Person in ihrem Leben eine Schwangerschaft ab. Es handelt sich daher nicht um einen „weisen Kompromiss, mit dem alle gut leben können“, wie im Beitrag dargestellt. Der Schwangerschaftsabbruch muss entkriminalisiert werden, um einen offenen, entstigmatisierenden und medizinisch fundierten Umgang mit Sexualität und Fortpflanzung zu ermöglichen, der derzeit nicht existiert. Nur unter diesen Bedingungen können Regelungen gefunden werden, die die gesundheitlichen und menschenrechtlichen Standards sowie das Selbstbestimmungsrecht von schwangeren Menschen wahren. Strafandrohungen gegenüber Schwangeren und Ärzt*innen unterlaufen solche Bemühungen.

Ulf Buermeyer stellt die Frage, welche Gegenvorschläge zur aktuellen Regelung existieren. Ein entsprechender Diskurs in Deutschland steht noch aus. Der Schwangerschaftsabbruch kann und sollte jedoch als öffentliche Gesundheitsleistung im Recht der medizinischen Dienstleistungen oder in Sozialgesetzbüchern reguliert werden. Auch in diesem Rahmen könnte eine Fristenlösung implementiert werden. Frauen und Ärzt*innen, die einen Abbruch mit dem Einverständnis der Schwangeren abbrechen, sollten keine strafrechtlichen Sanktionen fürchten. Die meisten europäischen Länder regeln den Zugang zur Versorgung mit Schwangerschaftsabbrüchen, einschließlich der Fristen und anderer Anforderungen, inzwischen in einem speziellen Gesetz oder in Gesetzen zu reproduktiver Gesundheit oder der allgemeinen Gesundheitsversorgung. Immer weniger Rechtsordnungen sehen strafrechtliche Sanktionen für Schwangere selbst vor. In Frankreich und Belgien bspw. wurde der auf den Willen der Schwangeren durchgeführte Schwangerschaftsabbruch im Wege von Gesetzesreformen weitgehend entkriminalisiert und im Gesetz über das öffentliche Gesundheitswesen (Frankreich, Code de la Santé publique) oder in einem Gesetz zum Schwangerschaftsabbruch (Belgien) geregelt. Nach aktuellem französischen Recht können Schwangere einen Abbruch bis zur 14. Woche ohne Pflichtberatung (abgeschafft 2001) und ohne Pflichtwartezeit (abgeschafft 2015) von einer Hebamme oder einem*r Ärzt*in durchführen lassen. Auch das Recht ungewollt Schwangerer auf ungehinderten Zugang zu Informationen zum Schwangerschaftsabbruch wurde im Gesetz verankert. Strafrechtlich sanktioniert bleiben nur solche Abbrüche, die gegen den Willen der Schwangeren durchgeführt werden. In Kanada steht der Schwangerschaftsabbruch überhaupt nicht unter Strafandrohung.

Daran wird ersichtlich, dass alternative Regulierungskonzepte existieren und denkbar sind. Allein die Tatsache, dass in Hinblick auf diese hochkomplexe Materie bis dato kein mit den Vorgaben des BVerfG übereinstimmendes, alternatives Regulierungskonzept für Deutschland öffentlich diskutiert wird, lässt nicht den Rückschluss darauf zu, der § 218 StGB sei eine gute Lösung. Die mangelnde Auseinandersetzung mit Alternativen ist unserer Ansicht nach sowohl der beschriebenen Tabuisierung als auch der Tatsache geschuldet, dass Sensibilität sowie Interesse für geschlechtsspezifische Thematiken unter Jurist*innen noch immer nicht selbstverständlich sind. In diesem Zuge möchten wir auch darauf hinweisen, dass selbstverständlich auch nicht-gebärfähige Menschen wie Ulf Buermeyer persönliche Erfahrungen mit Schwangerschaftsabbrüchen machen. Eine Argumentation auf dieser Grundlage der persönlichen Nähe verkennt auch bei der Selbsterkenntnis ein cis-Mann zu sein, dass wir ein strukturelles Problem der Regulierung weiblich gelesener Körper angehen. Die Kriminalisierung von Abtreibungen wurde in seiner geschichtlichen Entstehung auch als bevölkerungspolitisches Instrument genutzt und steht in Kontinuität der historisch und gesellschaftlich gewachsenen Kontrolle des Staates und seiner inhärent patriarchalen Strukturen über die weibliche Sexualität und Fortpflanzung.

Wir möchten abschließend klarstellen, dass ein Hinnehmen von Strukturen, die Gruppen von Menschen benachteiligen, die mit weniger Privilegien ausgestattet sind als andere, nie der Weg sein wird, der ein demokratisches System schützt. Die Frage, ob die Thematisierung des § 218 StGB im Hinblick auf die politische Landschaft in den USA „strategisch klug“ sei, stellt sich uns nicht. Denn gesellschaftliche Spaltung lässt sich durch Schweigen nicht verhindern. Ein gutes Leben für alle ist nur dann möglich, wenn wir benachteiligende Strukturen angehen. Ein Hinnehmen realer Probleme aufgrund der Befürchtung, die deutsche Parteienlandschaft sei nicht in der Lage, eine solche Auseinandersetzung zu bewältigen, kommt für uns als Mediziner*innen und Jurist*innen nicht in Betracht!

Mit freundlichen Grüßen

Paulien Schmid und Dr. Alicia Baier
für Doctors for Choice Germany e.V.

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