Stellungnahme zur Anhörung zum Werbeverbot für den Schwangerschaftsabbruch (Kristina Hänel)

Als ich 2017 die Ladung zum Amtsgericht erhielt, dachte ich noch, dass im November womöglich alles vorbei sei und ich wieder ein normales Leben würde führen können. Ich hoffte auf einen Freispruch und damit auf einen Präzedenzfall, der die Lage bzgl. des §219a in Deutschland verbessern würde. Ich ahnte nicht, wie wichtig es für die Gesellschaft ist, noch einmal und ganz grundsätzlich über Abtreibung zu diskutieren. Heute, fünf Jahre später, bedanke ich mich für die Einladung als Sachverständige in den Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages. Ich bedanke mich auch bei den Parteien und Bundestagsabgeordneten, die nicht lockergelassen haben, die sich zu Verbündeten der Frauen gemacht und die Gesetzgebung auf den richtigen Weg gebracht haben. Frauengesundheit muss uns allen am Herzen liegen. Sie ist ein bedeutender Indikator für ein gutes Gesundheitswesen.

Auswirkungen 219a StGB: Informationsdefizite Frauen, Rechtsunsicherheit Ärzteschaft
Auswirkungen auf ungewollt Schwangere

Neben der eigenen Verarbeitung und Entscheidungsfindung muss eine Betroffene mehrere Stationen durchlaufen. Schwangerschaftsfeststellung, Pflichtberatung, Kostenregelung, Adressensuche. Die meisten ungewollt Schwangeren machen selbst einen Test und suchen dann zunächst nach Informationen. Da kommt das böse Erwachen: Im Netz finden sie kaum sachliche Informationen, insbesondere keine Informationen über Ärzt:innen, die Abbrüche durchführen. Sie geraten u.a. auf Abtreibungsgegnerseiten, suchen dort nach Adressen. Zum Beispiel sah eine Frau ein Video eines Abtreibungsgegners im Netz, der vorgab, selbst operative Abbrüche durchzuführen. Die Frau war schockiert und verängstigt. Sie entschied sich dann für einen medikamentösen Abbruch, obwohl sie dafür nicht geeignet war, aber eine ergebnisoffene Beratung war zu dem Zeitpunkt, als sie mit den Fehlinformationen in die Praxis kam, nicht mehr möglich. Als Nächstes versuchen Frauen einen Termin bei ihrer Frauenärztin/ihrem Frauenarzt auszumachen. Viele haben große Schwierigkeiten, einen solchen zu bekommen. In einem aktuellen Fall telefonierte eine Frau in Marburg 8 Praxen ab, ohne Erfolg. Bei uns landen inzwischen ca. 20-30%, die es nicht geschafft haben, zeitnah einen Termin zur Schwangerschaftsfeststellung zu vereinbaren. Teilweise werden da Termine in drei Monaten angeboten. Wenn die Frau einen Termin bekommt, erhält sie dort evtl. weitere Informationen zu Methoden und Adressen. Oder sie erhält sie eben nicht. Das hängt in der Regel von der persönlichen Einstellung der Frauenärztin/des Frauenarztes ab. Es gibt auch Fälle, da weigern sich diese explizit, überhaupt die Schwangerschaftsfeststellung durchzuführen oder eine Bescheinigung darüber auszustellen. Kommen wir zu den Beratungsstellen: diese informieren in der Regel auch über Methoden, Kosten, etc. Die Berater:innen sind aber jeweils dafür auf Informationen aus zweiter Hand angewiesen, die Meisten haben nie einen Abbruch gesehen. Ebenso kann auch folgender Fall (wieder aus meiner Praxis) passieren: Eine Frau gerät aus Versehen in die Beratung von Pro Femina, weil sie den Namen mit Pro Familia verwechselt hat und verliert ca. 10 Tage, bis sie sich traut, nach der Beratungsbescheinigung zu fragen und erfährt, dass sie diese dort nicht erhält. Oft erfahren Betroffene mit geringem Einkommen erst in der Beratung, dass sie eine Kostenübernahme beantragen müssen. Dies kann auch noch einmal einige Zeit in Anspruch nehmen. In unserer Praxis kommen pro Woche ca. 2-3 Fälle vor, in denen Frauen es nicht geschafft haben, zeitnah eine Kostenübernahme zu erhalten. Wir verbringen dann in der Regel mehrere Stunden damit, diese für die Betroffenen noch zu organisieren. Sie steht ihnen ja zu.

Die Abhängigkeit vom Wissen und Willen einzelner Berater:innen und Ärzt:innen ist ein durch den §219a StGB geschaffenes Nadelöhr, durch das jede Betroffene hindurch muss, bevor sie eine adäquate medizinische Versorgung erhält.

In vielen Fällen funktioniert es, aber immer wieder schaffen Frauen es nicht. Das sind dann die Fälle, die sich seit einigen Jahren aus ganz Deutschland auch in meiner Praxis melden, weil mein Name nun einmal zu dem Thema bekannt geworden ist und sie sich in ihrer Verzweiflung bei uns Hilfe erhoffen. Wir versuchen dann Informationen und Adressen zu vermitteln. Das ist aber nicht unsere Aufgabe. Und die, die es nicht schaffen und dann ins Ausland gehen oder einen illegalen Weg nehmen oder sich in Einzelfällen gar suizidieren, sehen wir ja nicht einmal.

Auswirkungen auf Ärzt:innen

Ich hatte Kontakt zu ca. 100 Ärzt:innen und Krankenhäusern, die auch von einer Anzeige nach §219a StGB betroffen waren. Vielen war nicht bewusst, dass sie sich strafbar machten. Die Anzeigen wurden in der Regel eingestellt, die Informationen wurden aus dem Netz genommen. Ein paar alltägliche Beispiele über die bestehende Rechtsunsicherheit aus der Praxis: Eine Gynäkologin aus Gießen – wo ich die Einzige bin, die Abbrüche nach Beratungsregelung durchführt – sagt ihrer Patientin, sie dürfe ihr keine Adressen geben, aber sie solle doch mal im Wartezimmer schauen, ob sie dort einen gelben Flyer fände. In einer anderen Stadt traut sich eine Ärztin nicht, ihrer eigenen Patientin mitzuteilen, dass
sie Abbrüche durchführt. Sie schickt sie in die Beratungsstelle, damit sie es dort erfährt und zum Abbruch wieder zurückgeschickt wird. Zusätzlich zur Rechtsunsicherheit wirken noch die ungehemmten Angriffe der Anti-Choice Bewegung negativ auf die Bereitschaft der Ärzteschaft, Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen. Das immer wieder geäußerte Argument, Ärzt:innen handelten aus „Profitgier“, ist ebenso sarkastisch wie das Argument, Frauen würden sich für einen Abbruch „werben“ lassen. Zum einen wird hier die Tatsache ignoriert, dass Ärzt:innen Abbrüche quasi nicht kostendeckend anbieten können, wenn sie sich an die Gebührenordnung und Kostenübernahmeregelungen halten. Zum anderen werden Frauen in ihrer gesamten Lebensrealität mit der Care-Arbeit für Kinder, für pflegebedürftige Angehörige etc. ignoriert und zu Wesen degradiert, deren existentielle Lebensentscheidungen durch Werbung bestimmt werden könnten. Das ist zynisch und wird der persönlichen Tragweite der Entscheidung für einen Abbruch in keiner Weise gerecht.

Auswirkungen auf Forschung und Lehre

Die Rechtsunsicherheit wirkt sich auch auf Forschung und Lehre aus. Mir ist ein Fall bekannt, wo ein Dozierender, der Schwangerschaftsabbrüche in der universitären Lehre behandelte, von Studierenden nach §219a StGB angezeigt wurde. Die allgemeine Verunsicherung und Stigmatisierung führt dazu, dass an vielen Universitäten nur ethische, juristische oder beraterische Aspekte abgehandelt werden, aber nicht die Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen incl. Methoden und Komplikationen gelehrt wird. Wobei sich hier langsam ein Wandel abzeichnet. Wir sind jetzt in Deutschland endlich in der Situation, dass mehrere Studien zum Thema durchgeführt werden und die Erstellung einer Leitlinie in Arbeit ist. Dass wir hier im internationalen Vergleich extrem hinterherhinken, verdanken wir §219a StGB.

Der §219a StGB ist eine der Ursachen für die immer schlechter werdenden Versorgungslage beim Schwangerschaftsabbruch.

Unzureichende Reform des §219a StGB

Die Reform des §219a StGB im Jahr 2019 hat an dieser unzulänglichen Versorgungssituation nichts geändert, im Gegenteil: die Lage wird schwieriger. Es gibt kaum Informationen auf ärztlichen Webseiten, die zur Verfügung gestellte Liste ist unvollständig und unzureichend. Wichtige Informationen fehlen, z.B. bis zu welcher Woche werden Abbrüche durchgeführt, wie hoch sind die Kosten etc.? Nicht einmal die Hälfte der Ärzt:innen findet sich auf der Liste wieder. Allerdings wurde sie von Abtreibungsgegnern genutzt zur Verunglimpfung und Verfolgung derjenigen, die auf den Listen stehen.

Es geht nicht um sogenannten „Lebensschutz“ contra Selbstbestimmung

Das ethische Dilemma, das durch ungewollte Schwangerschaften entsteht und dem sich nach meiner langjährigen Erfahrung insbesondere die Betroffenen stellen, werden wir niemals lösen können. Wenn wir aber darüber sprechen wollen, wie wir Abbrüche verhindern oder deren Zahl reduzieren wollen, dann sollten wir uns an medizinische Evidenz halten: die Abbruchzahlen sind am geringsten in Ländern, die einen sicheren Zugang zu sicheren Schwangerschaftsabbrüchen haben, freien Zugang zu Verhütungsmitteln, Gleichberechtigung der Geschlechter (Ganatra 2017). Schon gar nicht ist eine Reduktion der Abbruchzahlen durch eine Beschränkung der Informationsmöglichkeiten durch Fachleute zu erreichen. Bei gleichzeitig uneingeschränkter Erlaubnis jeglicher Fehlinformation durch
Nicht-Fachleute. Denn das bedeutet ja de facto der §219a StGB.

Für eine informierte Entscheidung benötigt die Betroffene jegliches Wissen. (Auch Martin Luther hat damals, als er die Bibel übersetzt hat, gesagt, die Leute müssen wissen, was sie glauben sollen.) Wir können Frauen, nachdem wir ihnen das Lesen beigebracht haben, nicht wieder zu Analphabetinnen machen bzgl. von Informationen, die sie existentiell betreffen. Eins von vielen Beispielen aus meiner Praxis handelt von einer Frau, die erst bei mir, nachdem sie alle Instanzen und Hürden hinter sich gebracht hatte, die eigene starke Ambivalenz erkennen konnte und sich letztlich gegen den Abbruch und für das Kind entschieden hat.

Ärztliches Handeln im Sinne der Empfehlungen der WHO

Als Ärztin sind mir zwei Punkte wichtig, erstens: die medizinische Versorgung der ungewollt Schwangeren

Die ärztliche Berufsordnung unterscheidet zwischen sachgerechter und angemessener Information auf der einen Seite und berufswidriger Werbung auf der anderen Seite. Der §219a StGB tut dies nicht. Als Ärztin ist es meine berufliche Pflicht, Patient:innen sachlich und angemessen ausführlich zu informieren, damit sie eine eigenständige Entscheidung treffen können. Die WHO fordert weltweit sicheren Zugang zu sicheren Schwangerschaftsabbrüchen. Dazu gehört zwingend die zeitnahe Bereitstellung adäquater Informationen zu Methoden, Risiken und möglichen Komplikationen. Diese Informationen können sie sinnvollerweise ausschließlich von den Mediziner:innen erhalten, die Abbrüche vornehmen. Wird dies eingeschränkt, kommt es nicht etwa zur Verhinderung von Abbrüchen, sondern zu Zeitverzögerungen, Minderung der Qualität, Anstieg der Komplikationsraten, u.a. mit Folgekosten in der Gesundheitsversorgung (WHO 2014, WHO 2022).

Zweitens: Kinder, die auf die Welt kommen, sollen gewollt, angenommen, geliebt sein.

Ungewollte Kinder sind oft geschlagene Kinder, geraten zudem häufiger in kriminelle Karrieren, wie wir aus Rumänien und USA wissen (Levitt 2006). Ich selbst arbeite seit vielen Jahren mit Kindern mit Handicaps aber auch mit Traumaerfahrung, Vernachlässigung. Dies ist oft auch eine Folge von Überforderung.

Es gibt keinen guten Grund, Frauen und anderen Personen, die von ungewollter Schwangerschaft betroffen sind, Informationen vorzuenthalten. Der einzige Grund für ein Informationsverbot wäre, ihnen die Wege zu erschweren, sie zu demütigen, sie in die Irre zu führen, ihre Gesundheit aufs Spiel zu setzen. Das steht uns in einem modernen, freiheitlichen und demokratischen Staat nicht zu.

Literatur:

  • Bela Ganatra et al.: Global, regional, and subregional classification of abortions by safety, 2010-2014:
    estimates from a Bayesian hierarchical model. thelancet 2017.
  • Steven D. Levitt, Stephen J. Dubner: Freakonomics. Überraschende Antworten auf alltägliche
    Lebensfragen. Riemann 2006
  • World Health Organization. Handbuch für die klinische Praxis zum sicheren Schwangerschaftsabbruch.
    2014
  • WHO. Abortion care guideline executive summary. 2022
Stellungnahme zur Anhörung zum Werbeverbot für den Schwangerschaftsabbruch (Kristina Hänel)
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